Digital Twin / Digitaler Zwilling

30
Apr.

Der virtuelle Spiegel realer Systeme

Der Digitale Zwilling (englisch Digital Twin) ist ein digitales Abbild eines physischen Objekts, Prozesses oder Systems, das in Echtzeit mit seinem realen Gegenstück vernetzt ist. Dieses Konzept wurde Anfang des 21. Jahrhunderts von Michael Grieves und John Vickers formuliert und seither in zahlreichen Branchen etabliert. Ein Digital Twin besteht aus drei wesentlichen Elementen: dem physischen Objekt im realen Raum, dem digitalen Modell im virtuellen Raum und den bidirektionalen Datenverbindungen, die beide Ebenen synchronisieren (Digitaler Zwilling).


Aufbau und Funktionsweise

  1. Physisches Objekt:
    Das kann eine Einzelmaschine (z. B. eine Turbine), eine Produktionslinie, ein Gebäude oder gar eine ganze Stadt sein. Sensoren und Aktoren erfassen laufend Betriebszustände, Umwelteinflüsse und Nutzerdaten.
  2. Digitales Modell:
    Auf Grundlage physikalischer Gesetze, CAD-Daten und historischer Betriebsdaten entsteht ein Computermodell. Dieses Modell bildet Struktur, Verhalten und Zustandscha­rakteristika des Realobjekts ab.
  3. Daten- und Informationsverbindung:
    Echtzeitdaten, oft über das Internet of Things (IoT), fließen in den digitalen Zwilling („Digital Shadow“). Umgekehrt können Steuerungsbefehle vom virtuellen Modell in das physische System zurückgespielt werden („Digital Twin Trigger“), etwa um Prozesse zu regulieren oder vorausschauende Wartung auszulösen.

Typen und Archetypen

Grieves & Vickers definieren mehrere Ausbaustufen:

  • Basic Digital Twin
    Ein digitales Abbild mit internem Daten­speicher und grundlegender Verarbeitung.
  • Enriched Digital Twin
    Integration weiterer externer Datenströme (Upstream), etwa Wetterdaten oder Marktinformationen.
  • Autonomous Control Twin
    Cyber-physisches System mit Mensch-Maschine-Schnittstelle, das Vorschläge macht und Eingriff erlaubt.
  • Enhanced Autonomous Control Twin
    Erweiterung um Downstream-Datenflüsse in nachgeordnete Systeme, um automatische Anpassungen vorzunehmen.
  • Exhaustive Twin
    Vollständig autonomes, interoperables System, das bidirektional Daten austauscht und Nutzern umfassende Eingriffsmöglichkeiten bietet (Digitaler Zwilling).

Anwendungsfelder

Industrie 4.0 und Fertigung

In smarten Fabriken ermöglichen Digitale Zwillinge die virtuelle Inbetriebnahme neuer Anlagen und Predictive Maintenance. Maschinenprobleme werden simuliert, bevor sie real auftreten, und Wartungsintervalle optimiert.

Bauwesen und Smart Cities

Städte wie Singapore oder Helsinki entwickeln urbane Digitale Zwillinge, um Verkehrsströme, Energieverbrauch und Umweltbelastungen zu simulieren. Damit lassen sich Klimaanpassungsmaßnahmen besser planen und kommunale Dienstleistungen effizienter gestalten. Ein Überblick zu geförderten Reallaboren gibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (Planungsbeschleunigung für die Klimaanpassung – BMBF).

Gesundheitswesen

Digitale Zwillinge von Organen (z. B. virtuelles Herzmodel) unterstützen Ärzte bei Diagnosen und personalisierten Therapien. So kann vor einer OP das individuelle Risiko simuliert werden.

Materialforschung

Im Projekt MaterialDigital erstellt man Digitale Zwillinge von Werkstoffen auf mehreren Skalenebenen, um Eigenschaften und Recyclingprozesse zu optimieren (Homepage – Bekanntmachung – BMBF).


Nutzen und Vorteile

  • Risiko­minimierung: Virtuelle Tests reduzieren teure Fehlversuche am realen System.
  • Effizienz­steigerung: Prozesse werden in Echtzeit überwacht und optimiert.
  • Lebenszyklus­management: Vom Design bis zum Recycling begleitet der Digitale Zwilling das Objekt und hilft bei Entscheidungen.
  • Innovations­beschleunigung: Neue Ideen lassen sich virtuell erproben, bevor Ressourcen gebunden werden.

Herausforderungen

  1. Datenintegration und Standardisierung
    Verschiedene Hersteller, Protokolle und Datenformate erschweren die nahtlose Vernetzung.
  2. Datensicherheit und Datenschutz
    Kontinuierliche Datenströme erfordern robuste Sicherheitsarchitektur, um Manipulation und Ausspähung zu verhindern.
  3. Wartung des Modells
    Digitale Zwillinge müssen permanent aktualisiert werden, um Modelle und Realität in Einklang zu halten.
  4. Rechen- und Speicherkapazitäten
    Echtzeit­simulationen großer Systeme stellen hohe Ansprüche an Hardware und Netzwerkinfrastruktur.

Ausblick

Die Bedeutung Digitaler Zwillinge wächst, da sie als Kerntechnologie des Industrial Metaverse fungieren. Zukünftige Entwicklungen streben an, KI-gesteuerte Zwillinge zu schaffen, die nicht nur abbilden, sondern eigenständig Szenarien simulieren und Optimierungsvorschläge in Echtzeit umsetzen. Interdisziplinäre Kooperationen zwischen Forschung, Industrie und Städten werden dabei entscheidend sein.


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